Wie eine künstlerische Wirklichkeitskonstruktion die regionale Entwicklung fördern kann
Von Agnieszka Bormann
Isirás, der keltische Ursprung des Namens Iser, lässt den Blick auf eine schwer fassbare, mythische Dimension des verschwundenen Ortes richten. Wie ein Wink des Schicksals wirkt die Tatsache, dass der spätere Verfasser der Schlesischen Sagen, Will-Erich Peuckert, hier als frisch ausgebildeter Volksschullehrer seine ersten fünf Berufsjahre verbrachte. An Groß-Iser, das bis zum Kriegsende existierende Dorf im Isergebirge, erinnern heutzutage nur vereinzelte Mauerreste und Gedenktafeln. Eine Ausnahme bildet die kurz vor dem Krieg errichtete Neue Schule, die, umfunktioniert zu einem Wachposten des Grenzschutzes, die Wirren der Nachkriegszeit überstand. Ein drittes Leben haben Wiesława und Sławomir Polański dem Gebäude in den 1990er Jahren eingehaucht. Die Chatka Górzystów ist seitdem eine sagenumwobene Baude auf der Iserwiese zwischen Bad Flinsberg und Schreiberhau.
Außer der charismatischen Betreiberfamilie hat zu diesem Ruf maßgebend ihr seinerzeit häufiger Gast, Grzegorz Żak (42), beigetragen. Der damals angehende Autor, Musiker und Kabarettist aus Zgorzelec fand dort als Student seine geistige Heimat. „Das Entscheidende war die Leere. Die Naturkatastrophe der 1980er hatte das massenhafte Absterben der Bäume im Isergebirge zur Folge. Das veränderte die Landschaft in eine filmreife Kulisse für düstere Stoffe wie aus Geschichten von Sapkowski oder Tolkien. Touristen haben die Gegend gemieden, ich habe sie genossen. Die Leere hat mich angezogen – und inspiriert. Verirrt haben sich dorthin nur Menschen von einem besonderen Schlag, meist mit einer Geschichte im Rucksack. Durch die Begegnungen entstanden meine ersten Texte über den Grenzsoldaten Czesław“.
Mittlerweile hat Żak mehrere Bände mit Gedichten und Erzählungen veröffentlicht, einen davon unter dem Titel „Iserbaidschan und andere Hügelländer“. Der Name war ursprünglich einer der vielen Sprachwitze aus seiner Feder. Jetzt steht er wie ein Markenzeichen für eine Region, die sich seit Jahren als Land der kreativen Köpfe und mutigen Ansiedler neu erfindet. Immer wieder kommen Künstler und andere ungewöhnliche Menschen von weither in die Region und fangen hier ein neues Leben an. Beispiele könnte man endlos aufzählen, angefangen von der Chatka Górzystów und der Künstlerkolonie in Wolimierz. Und immer sind es Geschichten von großem, unternehmerischem Ideenreichtum. Die Neuankömmlinge retten alte Bausubstanz, eröffnen Ateliers und Pensionen, gründen Vereine, mobilisieren die lokalen Gemeinschaften, arbeiten die Geschichte ihres neuen Lebensumfeldes auf, veröffentlichen Bücher, organisieren Veranstaltungen, kurzum, sie bringen neues Leben in die alte Landschaft, frischen Wind, nachhaltig wirksamen Mehrwert.
Was ist das Besondere an Iserbaidschan? „Ich nenne es Zeitloch“, sagt Żak „Dieses sonderbare Zeit-Raum-Gefühl, als würde man einen dicken, schweren Vorhang beiseiteschieben und in eine andere Dimension hineintreten. Der Ort hinter dem Vorhang übt auf Menschen mit hoher Sensibilität eine magische Anziehungskraft aus. Die Zeit scheint hier langsamer zu fließen, es gibt viel Raum – im geografischen wie sozialen Sinne – um zu sich zu finden, um sich zu verwirklichen, um das zu sein, was man woanders nur schwer oder gar nicht werden könnte. Die Region hat sich ja von der Naturkatastrophe längst erholt, die Neuansiedler gründen oft Gästebetriebe und empfangen Touristen. Einige kommen dann wieder und bleiben.“
Spontan würde man behaupten, Iserbaidschan liege im Isergebirge und Iservorgebirgsland. Das wäre aber viel zu einfach. „Iserbaidschan liegt vor allem in den Herzen und Köpfen der Menschen, die diesen Flecken Erde lieben und sich mit dem Begriff identifizieren wollen, auch wenn sie ganz woanders leben. Das Land hat ja keine Grenzen und will auch keine haben. Der einzige Grenzpfosten in der Landschaft – übrigens im Rahmen einer künstlerischen Performance installiert – bringt das zum Ausdruck: Alles um ihn herum kann Iserbaidschan sein.“
Das neue Heimatgefühl, die emotionale Verbindung zum bewusst im Erwachsenenalter gewählten Lebensort, steht im Gegensatz zu einem traditionellen Verständnis von Heimat, die durch das hinein geboren sein in ein räumlich-soziales Gefüge mit seinem teilweise mythologisierten Erfahrungsschatz definiert wird. In Iserbaidschan hingegen ermöglicht die Freiheit des Geistes eine Wirklichkeitskonstruktion, die das heimisch werden an einem neuen Ort begünstigt und beschleunigt. Grzegorz Żak kennt das Erfolgsrezept: „Wir schreiben unsere Mythen selbst“.
In: Blickwechsel. Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa, Ausgabe 7, 2019, S. 8-9.