Carl Hauptmanns Rübezahl spricht auch Polnisch

Der gute Geist des Riesengebirges verbindet deutsche Vergangenheit und polnische Gegenwart der Region.

Ein Interview: Mit dem Übersetzer Emil Mendyk spricht Agnieszka Bormann, Kulturreferentin für Schlesien 

Agnieszka Bormann: Am 4. Februar 2021 jährte sich zum 100. Mal der Todestag von Carl Hauptmann. Sie haben im Jahre 2000 sein wohl bekanntestes Werk, das Rübezahlbuch, ins Polnische übersetzt. Wie kam es dazu?

Emil Mendyk: Das war 1999. Zuhause, beim Aufräumen, hörte ich im Radio ein Gespräch mit Przemysław Wiater, dem im November 2020 verstorbenen, damaligen Mitarbeiter des Museums im Carl-und-Gerhart-Hauptmann-Haus in Schreiberhau. Da war die Rede davon, dass es noch keinen einzigen Text von Carl auf Polnisch gebe. „Dann mache ich das!“ – war mein erster Gedanke. Ich bin zwar kein ausgebildeter Germanist, aber während meines Philosophie-Studiums hatte ich gut Deutsch lernen können. Anschließend, um meine Studentenkasse zu füllen, habe ich mit den ersten Übersetzungen angefangen. Das waren philosophische und theologische Texte.

AB: War diese spontane Entscheidung ein Sprung ins tiefe Wasser?

EM: Ja, erst unmittelbar danach habe ich mich intensiv mit dem literarischen Stoff der Rübezahl-Sagen beschäftigt und die fünf Legenden von Rübezahl von Johann Karl August Musäus aus dem Jahr 1783 sowie die ältesten Quellen zu Rübezahl aus dem 15.-17. Jahrhundert übersetzt. Die Übersetzung des Rübezahlbuchs von Carl Hauptmann war Pionierarbeit. Zum damaligen Zeitpunkt lagen nur ganz wenige Arbeiten zu ihm vor. Die Breslauer Germanistin Prof. Anna Stroka, die auch in Deutschland als Hauptmann-Kennerin gilt, hat schon früh über ihn publiziert, aber die meisten Veröffentlichungen der Sekundärliteratur sind erst nach 2000 erschienen, wie z. B. die Arbeiten von Prof. Krzysztof Kuczyński oder Prof. Mirosława Czarnecka. Diese Hintergrundinformationen haben mir bei der Übersetzung tatsächlich gefehlt. Deswegen erarbeitete ich einige Jahre später zusammen mit Przemysław Wiater eine zweite Fassung der Übersetzung, die 2008 veröffentlicht wurde. Als Kustos im Carl-und-Gerhart-Hauptmann-Haus war er ein ausgewiesener Hauptmann-Kenner und hat all diese Hintergründe, Seitenstränge, Nebenmotive und Zusammenhänge mit dem Lebenslauf Carls in die Übersetzung einfließen lassen.

AB: Worin unterscheidet sich der Rübezahl von Carl Hauptmann von seinen früheren literarischen Erscheinungsformen?

EM: Für sein Buch wählte Carl neun Geschichten über den Berggeist aus, die damals allgemein bekannt waren. Aber der Stoff war nur eine Projektionsfläche dafür, was er eigentlich erzählen wollte. Das Buch wurde während des Ersten Weltkriegs veröffentlicht. Carl, der zu dieser Zeit am Ende der Welt saß und sich in seinen Bergen verschanzte, schaute mit Abscheu auf das, was sich die zivilisierten Völker Europas gegenseitig antun. In diesen neun Geschichten zeigt Carl einen Berggeist, der von seinem Gebirge aus mit tiefer Trauer auf die Welt schaut – auf all das von Menschenhand gemachte Unglück. Hauptmann war Pazifist, er ließ sich also nicht mitreißen von diesem nationalen Wahnsinn, der damals mindestens halb Europa infizierte, und betrachtete ihn aus der Ferne. Er war Philosoph, er war Naturwissenschaftler, ein gedankenversunkener und naturliebender Mensch. In dem Rübezahlbuch wird seine Philosophie sichtbar. Es gibt hier viele universelle Bezüge, zum Beispiel zu Friedrich Nietzsche, dessen Worte später stark missbraucht wurden. Der Rübezahl bei Carl Hauptmann ist eine Art nietzscheanischer „Übermensch“, der nach dem Besseren strebt, ohne dass er überheblich wird und sich selbst als einen Besseren sieht. 
Also sind die alten Rübezahl-Legenden für Carl Hauptman nur ein Reservoir an Motiven oder Leitfäden, um die sich die Erzählung entwickelt. Im Vordergrund stehen aber aktuelle Probleme der Zeit: Sinnlosigkeit und Übel des Krieges, Willkür der Herrscher, Armut der Gebirgsbewohner, Sehnsucht nach Freiheit, Macht der Natur.

AB: Die Natur und ihre autonome Kraft spielen bei Carl Hauptmann immer eine wichtige Rolle. Er hat das Gebirge zu seiner Wahlheimat auserkoren und 30 Jahre lang, von 1891 bis zu seinem Tod, in Schreiberhau gelebt. Die Region ist auch Schauplatz seiner Texte. Das Riesengebirge ist ebenso Ihre Heimat – welche Bedeutung hat das für Ihre Arbeit?

EM: Die Wahrnehmung und die Liebe zu derselben Landschaft verbindet uns beide. Durch diesen Umstand, dass ich auf denselben Pfaden wandere wie Carl, konnte ich eine Art innere Brücke zu seiner geistigen Erlebniswelt aufbauen. Dass ich auch studierter Philosoph bin, hilft, den Kontext seiner Texte besser zu entschlüsseln.

AB: „Entschlüsseln“ passt auch sehr gut zu Carl Hauptmann. Er war ja ein hoch intelligenter, gebildeter, kluger und empfindsamer Mensch, der von den Naturwissenschaften über Philosophie zur Literatur gelangte. Seine Sprache ist nuanciert, komplex, voll von Sprachwitz, Doppeldeutigkeiten, Anspielungen, stellenweise verschlüsselt, mit Botschaften, die nur mit der Kenntnis des zeitgeschichtlichen Entstehungskontextes und viel Allgemeinwissen lesbar sind. Wie sind Sie damit in der Übersetzung umgegangen? 

EM: „Wie viele Sprachen du sprichst, sooft mal bist du Mensch“ – dieses Zitat von Goethe hing in meinem Deutsch-Klassenzimmer im Laubaner Lyzeum. Das trifft auch im Kern das Wesen einer Übersetzung. Es ist ein Vorgang, in dem eine komplexe und in einer Sprache fixierte Wirklichkeit für Menschen von außerhalb dieser Wirklichkeit zugänglich gemacht wird. 
In erster Linie stelle ich mir als Übersetzer die Frage: Wer soll der Leser sein? Was weiß er über den Kontext, welche Grundkenntnisse hat er? Dann beantworte ich für mich die Frage: Was wollte eigentlich der Verfasser sagen? Was steckt zwischen den Wörtern? Was ist seine Botschaft? Erst wenn man das für sich selbst verstanden hat, kann man mit der Übersetzung anfangen. Diese wird ständig von der Frage begleitet: Wie würde ich selbst das sagen? 
Dazu fällt mir ein Beispiel ein. Carl hat einen Schneesturm auf dem Gebirgskamm beschrieben. Der Berggeist wird dort als ein körperloser Tanzer präsentiert, der aber im Winde und Sturm mit den Fichten, Latschenkiefern, Birken und Felsen beinahe erotisch umgeht. Carl beschreibt, wie sie sich vor ihm neigen, wie er in seiner Kraft, aber doch fein und sanft, eindringlich ist usw. Um das richtig darzustellen, habe ich einige Erzählungen aus der Kategorie „Romanze“ gelesen, um den für diese Art der Texte typischen „lexikalischen Apparat“ zu beherrschen und in der Übersetzung auch mit gewissen Zweideutigkeiten zu spielen.
Noch ein Beispiel für die Komplexität des Textes. Im Epilog des Rübezahlbuches schreibt Carl, dass der Berggeist „jenseits von Gut und Böse“ sei, was ein Zitat von Friedrich Nietzsche ist. Und wenige Zeilen weiter ist die Rede von den Menschen, die das Geheimnis vom Berggeist mit ihren „kleinen Bechern zu verstehen“ versuchen. Das ist wiederum eine Anspielung auf den Heiligen Augustinus und seinen Traum von einem Kind, das mit seinem kleinen Becher das Wasser aus einem Meer ins kleine Loch umzugießen versucht – als Bild eines Versuches, das Wesen der göttlichen Dreifaltigkeit zu verstehen. Das sind eben diese Motive, die nur in einem philosophischen Kontext verständlich sind.

AB: War womöglich diese Komplexität der Grund dafür, dass Carl Hauptmann so lange nicht übersetzt wurde? Schließlich hat das polnische Lesepublikum fast 90 Jahre auf sein Rübezahlbuch gewartet. Wenn man bedenkt, dass die Texte seines jüngeren Bruders Gerhart schon zu dessen Lebzeiten ins Polnische übersetzt wurden, dazu noch von namhaften polnischen Literaten wie Leopold Staff, Jan Kasprowicz oder Maria Konopnicka, wird einem die Asymmetrie der Rezeption beider Brüder sichtbar. 

EM: Gerhart schrieb „die richtigen Texte zur richtigen Zeit“, er war zu seiner Zeit wirklich „in“. Daher ist er auch berühmt und reich geworden. Und Carl galt schon damals nur als „Bruder seines Bruders“. Im Laufe der Zeit hat sich das nicht besonders verändert. Aber heute sind Gerharts Texte sehr schwierig zu ertragen und zu verstehen. Dagegen schrieb Carl über Sachen, die immer aktuell sind, gewisse „Meta-Texte“, die sich damals wie heute schwerer „verkaufen“. 
Dann kam der geschichtliche Bruch 1945, aus Schreiberhau wurde Szklarska Poręba. In der Nachkriegszeit war Carl Hauptmann „ein Deutscher“, ein Vertreter der Kultur und Sprache, auf die man in Polen nach den Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges mehr als allergisch reagierte. In diesen psychologisch oder emotional nachvollziehbaren Umständen konnte eine Übersetzung Carl Hauptmanns schwer erfolgen. Die Wiederentdeckung der deutschen Kultur und Geschichte in Niederschlesien begann erst später, vor allem mit der Wende. In den letzten 30 Jahren wurde viel nachgeholt.
Aber die Figur des Rübezahls war selbstverständlich auch vor der Wende in Polen bekannt, und zwar durch den schon 1945 veröffentlichten Text von Józef Sykulski mit dem Titel Rübezahl. Der böse Geist des Riesengebirges und Hirschbergs (Liczyrzepa. Zły duch Karkonoszy i Jeleniej Góry). Der Autor hat den Namen „Liczyrzepa“ in den Umlauf gebracht, was eine wörtliche Übersetzung des „Rübenzählers“ ist. In den späteren Jahren hatte er mehrfach darauf hingewiesen, dass dieser Name nicht richtig und auch nicht schön sei, aber es war schon zu spät; bis heute spricht man doch von „Liczyrzepa“. In meiner Übersetzung ist „Duch Gór“, der „Berggeist“, die Titel- und Hauptfigur, um auf den Ursprung und das verbindende Element aller Sagen hinzuweisen. Seitdem wird Duch Gór immer populärer. 
Ein anderer Grund für die gewisse Vernachlässigung Carl Hauptmanns ist damit zu erklären, dass er – selbst in Deutschland – schon immer im Schatten seines Bruders Gerhart lebte und rezipiert wurde. Warum sollte das denn in Polen anders sein?

AB: Dieser Schatten des großen Bruders ist ziemlich lang – er zieht sich bis heute. Am deutlichsten ist der Umstand in den Bibliotheken und akademischen Diskursen sichtbar. Über Gerhart Hauptmann wird immer noch diskutiert, promoviert und geschrieben. Für die Präsenz Gerhart Hauptmanns in der nichtakademischen Öffentlichkeit war es aber beispielsweise viel wichtiger, als vor etwa drei Jahren das Buch Wiesenstein von Hans Pleschinski über Gerharts letzte Lebensmonate durch das Feuilleton ging. Um Carl Hauptmann ist es in Deutschland eher still. Und in Polen?

EM: In Szklarska Poręba und der Region ist Carl sicherlich besser präsent als sonst in Polen. Die akademischen Diskurse finden aber auch hier leider in geschlossenen Kreisläufen statt und strahlen wenig auf die Allgemeinheit ab. Das Rübezahlbuch war ein riesiger Schritt in Richtung Popularisierung Carl Hauptmanns, aber es gibt noch so viele andere Texte, die eine Übersetzung verdient hätten. Das Interesse der Verleger ist aber gering. Und das, obwohl er wunderbar in den Flow der aktuellen niederschlesischen Literatur passt. Er hat in seinem Text umgesetzt, was für die niederschlesische Literatur über die Jahrhunderte so typisch war und geblieben ist. Von der schlesischen Mystik bis zu Olga Tokarczuk: das Sehen, Anschauen, um das unsichtbare Wesen des Gesehenen zu erfassen. „Das Wirkliche ist dahinter, versteckt, aber auffindbar. Du musst dir die Dinge nur genau anschauen!“ – scheint ein Leitfaden der niederschlesischen Literatur über die Jahrhunderte hinweg zu sein. Carl Hauptmann hat in dem Zusammenhang eine besondere Schnittstelle zwischen der Natur, der Philosophie und der Literatur gefunden. Seine intellektuelle und künstlerische Verbindung zwischen der Natur, dem Leben-am-Rande-der-Welt, dem Mitleid mit den „kleineren Brüdern“ und der Suche nach dem Stabilen in einer unstabilen Welt – all das hat Potenzial, seine Werke in einem neuen, gegenwärtigen Kontext neu zu lesen.
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Emil Mendyk, geb. 1972, Philosoph, Übersetzer, Berg- und Fremdenführer. Der erste Übersetzer von Carl Hauptmann ins Polnische lebt in Mysłakowice (Zillerthal im Riesengebirge). Aktuell arbeitet er beim Landesamt für Archäologie Sachsen in Bautzen bei dem Projekt „1000 Jahre Oberlausitz“.

Bild oben: Rübezahl-Figuren im Schlesischen Museum zu Görlitz. Sie stammen von ehemaligen Schülern der Warmbrunner Holzschnitzschule, die vor 1945 in Bad Warmbrunn ansässig war und deren Tradition nach der Vertreibung in Stuttgart und Umgebung weitergeführt wurde. Fot. Pech/SMG

Der Text ist erschienen in Schlesien heute 3/2021