Unheimisch. Niederschlesiens (Um)Brüche im Objektiv

Von Agnieszka Bormann

Wenn Bilder mehr als tausend Worte sagen, verstummt der Betrachter. Die Bilder ziehen ihn mit ihrer ästhetisch durchdachten Komposition an, halten ihn emotional auf positive wie negative Weise im Bann. Gefangen in einer Welt, die erst in ihrem konkreten Ausschnitt aussagekräftig wird, übernimmt der Betrachter intuitiv die Haltung des Fotografen, der aus Entfernung kulturelle Artefakte wahrnimmt und ein Bild er-schafft. Ja, keine Ab-Bildung, sondern die Erschaffung von Bildern ist das grundlegende Prinzip der Fotografien von Agata Pankiewicz und Marcin Przybyłko, die der Öffentlichkeit in der Ende 2019 erschienenen polnischsprachigen Publikation Nieswojość (Unheimisch) und 2020 in einer Auswahl in der gleichnamigen Ausstellung in Görlitz vorgestellt wurden. 

Das polnisch-deutsche Projekt des Literaturhauses in Breslau (Wrocławski Dom Literatury), der Kunstakademie in Krakau (Akademia Sztuk Pięknych) und des Kulturreferates für Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz hat sich zum Ziel gesetzt, mittels Wort und Bild eine Reflexion über die kulturellen Folgen des beinahe vollständigen Bevölkerungsautausches in Niederschlesien nach 1945 anzustoßen. Wie manifestiert sich 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die unterbrochene kulturelle Kontinuität in der mentalen und der objektivierten Landschaft? Wie war und wie entwickelt sich der Umgang der Polen mit dem deutschen kulturellen und materiellen Erbe?

Die Fotografien von Pankiewicz und Przybyłko wecken Gefühle des Unbehagens, der Verwunderung und auch des Mitleids mit der alten Bausubstanz, die in den Nachkriegsjahren wie eine letzte auszuradierende Erinnerung an den vormaligen Feind übrig geblieben war. Den Schlüssel zum Verständnis des Phänomens liefert ein Zitat aus einer Erzählung von Henryk Worcell aus dem Jahre 1945, gleichzeitig der Untertitel der Publikation und in der Ausstellung als überdimensionaler Schriftzug prominent vertreten: „Der Boden ist seit Jahrhunderten unser, aber die Häuser sind es nicht.“ Das Zitat verdeutlicht die Stimmungslage nach dem Krieg und hilft zu verstehen, wie unheimisch sich die neuen Bewohner Niederschlesiens in der neuen Heimat gefühlt haben müssen. Den kommunistischen Propagandaparolen von den „wiedergewonnenen Gebieten“ folgend, konnten sie mit dem Vorgefundenen wenig anfangen, da sie den Boden zwar als ihr Terrain, die Bauten aber nicht als ihr Zuhause empfanden.

Agata Pankiewicz und Marcin Przybyłko versehen ihre Bilder nicht mit Ortsbezeichnungen oder Titeln, um jede Stigmatisierung der dort lebenden Menschen wie der Orte selbst zu vermeiden. Ihre Fotografien sind vielmehr ein pathetischer Ausdruck des Dramas, das sich dort jeweils abspielte. Ostentativ konträr zu den Hochglanzfotos der Tourismusindustrie, wagen diese Bilder einen subjektiven, kritischen Gegenentwurf zu den medialen Geschichten von der Sanierung z. B. der Schlösser im Hirschberger Tal. In ihrer Faszination für Abfall und Destruktion knüpft diese kritische Darstellung an die für die Romantik typische Ästhetik der Ruine(n) an. Durch die bewusste Herausstellung der Brüche, Umbrüche und Bruchstücke entsteht auch eine Art der Visualisierung des Gedächtnisses und wir können beobachten, wie ein beschädigter, verwundeter Teil eines einstigen Ganzen heute wie ein Zeuge früherer Zeiten weiter existiert. 

Die verletzte Landschaft Niederschlesiens besteht heute aus architektonischen Spuren und Schichten, die sich in den Kriegsjahren und Nachkriegsdekaden abgelagert haben. Sie sind der visuelle Ausdruck einer kulturellen Diskontinuität, des Weggangs einer Kultur und der Ankunft einer anderen. Diese andere Kultur hat die ursprünglichen Realitäten gründlich umgepflügt, teilweise unumkehrbar, und damit eine neue Landschaft geschaffen, eine neue Ästhetik, die auch soziale und gesellschaftliche Verwerfungen sichtbar macht. 

Erst heute, in der Generation der Enkel und Urenkel der ersten polnischen Siedler, kann dies offen und kritisch diskutiert werden. Die Publikation Nieswojość liefert visuelle wie auch literarische Ansätze für eine öffentlich geführte Debatte über die historisch bedingte Zwiespältigkeit der Architekturlandschaft Niederschlesiens, die in den Bildern von Pankiewicz und Przybyłko kompromisslos sichtbar gemacht wird. In ihrem Essay schreibt Prof. Marta Leśniakowska pointiert: 

"Das Bild des neobarocken Portals, das einmal zum Hof eines nicht mehr existierenden Schlosses führte und heute neben primitiven Garagen steht, hat hier eine paradigmatische Dimension. Es wird schmerzhaft deutlich, welch dramatisches Verhältnis die beiden Kulturen eingehen. Die Reste, Spuren, Reliquien, Abdrücke der kleinen Gedächtnisse sind hier der Erosion und der systemischen, politisch motivierten Verdrängung durch die neue Gesellschaft ausgesetzt. Dadurch gewinnen sie die universelle Dimension einer starken emotionalen Aufladung (…).“ (Marta Leśniakowska, Taki pejzaż. Fenomenologia fotograficznej weduty, in: Nieswojość, S. 143 f., Übersetzung A. Bormann)

Erschienen in: Blickwechsel. Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa, Ausgabe 9, 2021, S. 10-12 
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Bilder unten: Impressionen von der Ausstellungseröffnung von UNHEIMNISCH am 6.02.2020 in der Galerie Brüderstraße in Görlitz.